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Glanz, Glamour und Dystopie – Meine Jurytätigkeit bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2025

24.05.2024

Vom 13. bis 24. Mai 2025 fanden zum 78. Mal die Internationalen Filmfestspiele von Cannes statt. Thomas D. Fischer durfte durch Berufung der DBK und der katholischen Weltmedienorganisation SIGNIS als Mitglied der Ökumenischen Jury am Festival teilnehmen.

Von Thomas D. Fischer.

Vom 13. bis 24. Mai 2025 fanden zum 78. Mal die Internationalen Filmfestspiele von Cannes statt, die renommierteste Plattform für das internationale Arthouse-Kino (hier das offizielle Plakat https://www.festival-cannes.com/en/press/press-releases/a-man-a-woman-two-posters/). Ich durfte durch Berufung der Deutschen Bischofskonferenz und der katholischen Weltmedienorganisation SIGNIS als Mitglied der Ökumenischen Jury am Festival teilnehmen. Dabei vertrat ich die deutschen Hochschulen und insbesondere den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Mein herzlicher Dank gilt der Inhaberin des Lehrstuhls, Frau Prof. Dr. Mirjam Schambeck sf, die mir von Anfang an bei meiner Jurytätigkeit in jeder Hinsicht unterstützte.

Eine Jury zwischen Konfessionen und Kulturen

Die Ökumenische Jury in Cannes vergibt seit 1974 jährlich einen eigenständigen Preis. Die Jury zeichnet Filme aus, die durch ihre künstlerische Qualität ebenso wie durch thematische Tiefe, ethische Fragestellungen und humanistische Haltung hervorstechen. Die Entscheidung erfolgt unabhängig vom offiziellen Festivaljuryprozess. In diesem Jahr bestand die sechsköpfige Jury aus Vertreterinnen und Vertretern verschiedener christlicher Konfessionen – katholisch und evangelisch – und war international besetzt mit Mitgliedern aus Schottland, Tschechien, Frankreich und Deutschland. In dieser Zusammensetzung sichteten wir 22 Filme der offiziellen Festivalwettbewerbsauswahl und diskutierten mit dem Ziel, ein Werk auszuzeichnen, das nicht nur künstlerisch herausragt, sondern auch eine spirituelle Tiefe, ethische Relevanz und menschliche Hoffnung vermittelt.

Preisvergabe an Jeunes mères der Dardenne-Brüder

Der diesjährige Preis der Ökumenischen Jury ging an Young Mothers (Jeunes mères) der belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne. Der Film spielt in einem Mutterhaus in Lüttich und thematisiert die Lebensrealitäten jugendlicher Mütter, die mit existenziellen, emotionalen und sozialen Herausforderungen konfrontiert sind. Mit minimalistischer Dramaturgie, präzisem Schauspiel und reduzierter Inszenierung entfaltet der Film ein komplexes soziales Panorama, das intime Beziehungen mit gesellschaftlicher Verantwortung verknüpft. Der Preis wurde verliehen für die unaufdringliche Darstellung lebensspendender individueller Fürsorge inmitten systemischer Brüche (https://www.signis.world/headline/24-05-2025/dardenne-brothers-win-ecumenical-prize-at-cannes-2025-for-young-mothers)

Die Festivaljury unter Vorsitz von Juliette Binoche zeichnete den Film zusätzlich mit dem Preis für das beste Drehbuch aus – eine doppelte Würdigung also. (Hier die Liste aller vergebenen Preise in Cannes https://www.festival-cannes.com/en/press/press-releases/the-78th-festival-de-cannes-winners-list/)

Weitere filmische Höhepunkte und Herausforderungen der Juryauswahl

22 Filme konkurrierten um die Auszeichnung – viele davon griffen aktuelle gesellschaftliche und politische Themen auf, oft mit dystopischem oder apokalyptischem Unterton. (Hier die nominierten Filme https://www.festival-cannes.com/en/press/press-releases/the-films-of-the-official-selection-2025/)

Herausragend war etwa It Was Just an Accident von Jafar Panahi, der von der offiziellen Jury mit der Goldenen Palme geehrt wurde und bei der Ökumenischen Jury ganz weit oben auf unserer shortlist zu finden war. Panahis Film erzählt von Gewalt, Haft und moralischen Ambivalenzen im Iran. Fragen nach Schuld, Vergebung und Aufarbeitung bilden den ethischen Kern des Films, der zwischen schwarzem Humor und bedrückender Realität oszilliert.

Ein weiterer Höhepunkt war Two Prosecutors von Sergei Loznitsa. Die filmische Adaption eines Gulag-Romans basiert auf historischen Recherchen über die stalinistischen Säuberungen 1937. Die formal strenge, fast kammerspielartige Inszenierung vermittelt durch Verlangsamung, Stille und enge Bildausschnitte eine intensive Atmosphäre staatlicher Gewalt und bürokratischer Kälte – ein Film mit starker dokumentarischer Anmutung, der historisch informiert und zugleich universell wirkt.

The Secret Agent von Kleber Mendonça Filho war ein visuell wie dramaturgisch ungewöhnlicher Beitrag. In einem Genremix aus Politthriller, Komödie und Allegorie verbindet der Film den brasilianischen Diktaturkontext der 1970er mit Motiven des Horrorkinos, inklusive einer grotesken Szene mit einem Hai und einem abgetrennten Bein. Die filmische Sprache ist sehr experimentell, die gesellschaftskritische Botschaft tritt klar hervor.

Von Kritiker:innen kontrovers diskutiert wurde Eddington von Ari Aster – eine Mischung aus Western, Familienporträt und Medienkritik, der stilistisch vor allem zum Ende hin an Tarantino erinnert. Die aggressive Bildsprache und die thematische Überfrachtung (Pandemie, Rassismus, Verschwörungstheorien, Big Tech) provozierten ebenso wie die bewusst ins Groteske überhöhte Gewalt. Dennoch: ein formal anspruchsvoller Beitrag über den Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft.

Ein ruhiger, aber nachhaltiger Film war Dossier 137 von Dominik Moll – eine fiktive Aufarbeitung polizeilicher Gewalt im Kontext der Gelbwesten-Proteste in Frankreich. Die Hauptfigur, eine Kommissarin, wird zur Grenzgängerin zwischen Loyalität und Gerechtigkeit. Der Film bleibt politisch differenziert, erzählt aber aus Sicht der Opfer und sucht ethische Orientierung jenseits von Ideologien.

Besonders innovativ war Sirat von Óliver Laxe. Durch wuchtige Soundgestaltung im Techno-Stil und einer offenen Dramaturgie erzählt der Regisseur von der Zerstörung einer Welt durch einen namenlosen Krieg. Der Film bleibt bewusst unbestimmt in Zeit und Ort – eine Art poetischer Katastrophenfilm, der durch Form und Atmosphäre besticht.

Außergewöhnlich in schwarz-weiß ist Richard Linklaters Nouvelle Vague, ein halbfiktionales Werk über die Anfänge der französischen Filmavantgarde 1959 in Cannes, eine Hommage an Godard und Truffaut.

Eher im Stile von Feelgood-Filmen liefen in der offiziellen Auswahl folgende Filme:

A Phoenician Scheme von Wes Anderson war – wie zu erwarten war – ein visuell durchkomponiertes Werk mit hohem Wiedererkennungswert. Mit gewohnt geometrischer Ästhetik und lakonischem Humor erzählt der Film eine historische Fiktion rund um ein archäologisches Komplott im Nahen Osten der 1930er-Jahre. Trotz der stilistischen Raffinesse blieb der emotionale Zugang zum Stoff eher distanziert, was - auch das war zu erwarten - erneut die Frage nach Form versus Inhalt in Andersons Werk aufwirft.

In Sentimental Value stehen ein altes norwegisches Haus und ein Vater im Mittelpunkt, der einst seine Familie für eine Karriere als Filmregisseur verlassen hat. Nach dem Tod der Mutter kehrt er zu seinen Töchtern zurück – im Gepäck ein neues Drehbuch. Darin will er sich autofiktional mit den Themen Depression und Suizidalität innerhalb der weiblichen Familienlinie auseinandersetzen. Die distanzierte Tochter, eine Theaterschauspielerin, die unter starkem Lampenfieber leidet, soll die Hauptrolle übernehmen. Trotz der Schwere des Stoffs gelingt es, das Ganze mit skandinavischer Leichtigkeit zu inszenieren – unterstützt von einem großartig agierenden Ensemble.

In The History of Sound wird eine homosexuelle Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs erzählt. Basierend auf einer literarischen Vorlage von Ben Shattuck, entfaltet der Film eine subtile, zurückhaltend inszenierte Erzählung über Intimität, Verlust und Erinnerung, wobei insbesondere die akustische Gestaltung – passend zum Titel – ein absoluter Genuss ist.

Einblicke in den Festivalbetrieb

Neben der intensiven Juryarbeit ermöglichte die Teilnahme einzigartige Einblicke hinter die Kulissen des Festivals. Besonders eindrucksvoll war die Eröffnungsrede von Robert De Niro, der über die Verantwortung von Künstlern in Zeiten politischer Polarisierung und Unterdrückung sprach und die Kraft des Films als kollektives Gedächtnis und moralische Kraft betonte.

Cannes war auch ein Eintauchen in die Glamourwelt: der Gang über den roten Teppich, das Blitzlichtgewitter, die unmittelbare Nähe zu Stars und Filmschaffenden, Empfänge, Fototermine, Interviews – all das war faszinierend und lehrreich. (Hier Link zum Empfang der Jury auf dem Roten Teppich https://www.youtube.com/watch?v=bxn62QL-gJw&t=3s)

Und dann immer wieder dieser Kontrast durch das Elend und Leiden in der Welt, das eindrücklich und immersiv in den Filmen dargestellt wird: Folter, Tod, Missbrauch, Krieg … Und dennoch: Das Wesentliche spielte sich nicht auf dem roten Teppich und nicht im Grand Théâtre Lumière ab, sondern in den ruhigen, konzentrierten Diskussionen unserer Jury.

Und mit der Badehose und dem Handtuch in meinem Rucksack gab es auch immer mal wieder ein Eintauchen ins erfrischende Blau der Côte d’Azur - so kann eine Pause auch aussehen.

Als Kontrast zur Glitzerwelt gab es wohltuende spirituelle Impulse während des Festivals: Eine sehr lebendige ökumenische Begleitung durch die katholische und die evangelischen Kirchengemeinden in Cannes, eine bewegende Eucharistiefeier in der Kirche Notre-Dame-du-Bon-Voyage, ein Gottesdienst in der reformierten Gemeinde von Cannes sowie eine feierliche ökumenische Liturgie vier Tage später.

© @ Robert Rivoira

Eine neue Perspektive auf die Kunstform Film als Mittel der Theologie und des Religionsunterrichts

Was mich als Religionspädagogen und -didaktiker besonders bereichert hat, waren die beinahe täglichen Sitzungen und die Diskussionen innerhalb der Jury, allesamt Theolog:innen, Philosoph:innen, Journalist:innen, Medienvertreter:innen …, vor allem aber Cineast:innen, die jede:r aus einer eigenen Perspektive auf die Filme schauen. Es ging auch darum, nicht nur Filme zu analysieren, sondern zu spüren, wie Bildsprache, Narration und Atmosphäre spirituelle Tiefen berühren können – jenseits explizit religiöser Thematiken; wahrzunehmen, wie universell christliche Werte im Medium Film anklingen können.

Cannes 2025 war für eine außergewöhnliche Erfahrung – eine geistige, ästhetische und menschliche Bereicherung, die ich am Lehrstuhl und der Lehre gerne weitertrage. Ein Erlebnis, wie stark Kunst wirken kann, wenn sie nicht nur unterhält, sondern herausfordert, irritiert und berührt.

Thomas D. Fischer, im Juni 2025